Der Kopfgeldjäger fährt Mercedes
Theater für Auge, Ohr und Nase bei „Türkenschätzchen“ des Freilandtheaters
Die Helden kommen zu Fuß in das verlassen scheinende Dörflein. „Nobody seems to be here,“ meint Mehmet, der Jüngste des anatolischen Trios, das es in das kleine fränkische Dörfchen Schaffenrath verschlagen hat. Doch der Eindruck täuscht, wie die Zuschauer von „Türkenschätzchen“ bald feststellen können.
Laut hupend kommt ein elfenbeinweißer Mercedes 220SEb den Museumshügel heruntergebraust, gefolgt von einem grünen Moped, von links kommt ein Hercules Roller, dazwischen springen Kinder, flüchten Katzen, bringen Frauen ihren Kinderwagen in Sicherheit: Rasantes Dorfleben in den 60ern bestimmt die Szenerie zu Beginn der diesjährigen Sommerproduktion des Freilandtheaters. Das Stück spielt im Jahr 1966, und die Fahrzeuge sind allesamt aus dieser Zeit.
Die zwei- und vierrädrigen Fahrzeuge sind teils Anschaffungen des Theaters, teils aber auch Leihgaben von Sammlern und des vdh. So beispielsweise der Mercedes des Wurstfabrikanten, der im Dorf das Sagen hat. Das Mercedes Coupé aus dem Jahr 1964 ist nicht nur im Stück, sondern auch auf der Straße ein echter Hingucker. Es wird regelmäßig mit einem Kurzzeitkennzeichen angemeldet und bekommt seinen Auslauf auf der Landstraße. Ebenso auch der blaue Mercedes 220 Sb, eine viertürige Limousine, die dem Theater vom vdh zur Verfügung gestellt wurde. Alle zwei Wochen wird der Motor außerhalb des Museums „durchgepustet“. Denn die Kurzstrecken auf der Theaterbühne würden sonst zu Verrußungen führen, und das wäre nicht nur schlecht für den Motor und damit die unabdingbare Zuverlässigkeit bei den Einsätzen während der Aufführungen, sondern auch für die Nasen des Publikums.
Die bekommen ohnehin Einiges zu riechen. Die Fahrzeuge sind alle aus einer Zeit, als man den Begriff Katalysator nur aus dem Chemieunterricht kannte. Man kann mit etwas Übung jedes einzelne Gefährt „erriechen“ – die knatternden Hercules-Zweitakter mit ihrem Benzin-Öl-Gemisch genauso wie die mächtigen Sechszylinder der beiden Mercedes und den kleinen Vierzylinder-Heckmotor des 850er Fiats.
Das Mercedes Coupé hat den Einspritzmotor M127 mit 120 PS aus 2195ccm Hubraum, der für sein maximales Drehmoment reichlich auf Touren kommen muss. Der Doppelvergasermotor M180 der Limousine geht die ganze Angelegenheit freilich noch ein wenig ruhiger an und verleitet den Fahrer eher dazu, gar nicht erst zu versuchen, einen sportlichen Auftritt hinzulegen. 105 PS können eben mit eineinhalb Tonnen Leergewicht nicht wirklich leichtfüßig verfahren. Und dann ist der babyblaue Kalifornien-Reimport im Stück auch noch voll besetzt. Aber die wichtigsten Voraussetzungen erfüllen die beiden Sindelfinger ohne Frage: zuverlässig anspringen und leise und eindrucksvoll davonrauschen.
Noch leiser, fast unhörbar aber flüstert das Motörchen des dunkelblauen Fiat 850, mit dem sich zu Beginn des Stückes der Kopfgeldjäger des Gastarbeiterwesterns auf die Bühne pirscht. Peter „Petrus“ Huber – im Stück spielt er den Beauftragten des Amtes für Arbeitsvermittlung, der hinter den drei Helden her ist - hat sich mittlerweile mit der hakeligen Schaltung des kleinen Italieners angefreundet. Der Fiat, der in dieser Form als 850 Speciale eigentlich erst 1968 auf den Markt kam, ist auch der Liebling der Kinder des Ensembles – woraus dann spontan eine Szene entstand, in der das „Autochen“ und die Kinder gemeinsam auf der Bühne stehen. Doch im zweiten Teil hat der Vermittler endlich „seinen Mercedes“, auf den er eigentlich von Anfang an bestehen wollte.
Auch die Zweiräder haben ihre interessanten Geschichten. Der Hercules Roller wurde von einem Windsheimer Motorradenthusiasten liebevoll wiederaufgebaut und in atemberaubendem Türkis lackiert. Der Kickstarter wirft das 3-PS-Motörchen zuverlässig an. Vorausgesetzt, man hat es vorher ca. 100 mal geübt. Denn alle alten Fahrzeuge wollen gefühlvoll behandelt werden, und man muss sich erst einmal „aneinander gewöhnen“. Das gilt auch für das grünlackierte Moped, das auch einmal eine Hercules war. Doch irgendwann bekam das Gefährt aus dem Jahr 1965 einen Simson-Motor aus DDR-Produktion. Der will nicht nur gefühlvoll gestartet, sondern auch mit zartem Fuß geschaltet werden.
Ein Fahrzeug des Theaters bleibt allerdings hinter den Kulissen. Ein weißer Mercedes 200D, eine Heckflosse aus dem Jahr 1967, ist zwar optisch und technisch eigentlich wie geschaffen für das Stück. Doch bei den Proben stellte sich heraus, dass der zuverlässige und mächtige Diesel mit seiner halben Minute Vorglühzeit und seinem kernigen Nageln den Sechszylindern zumindest in Hinsicht Diskretion unterlegen ist. Doch er hält sich im Hintergrund bereit, falls einer der beiden anderen blechernen Akteure einmal indisponiert sein sollte.
Der Effekt der vielen knatternden, flüsternden und rauschenden Gefährte ist nicht nur ein optischer und akustischer. Ein klassisches Auto im Bühnenbild ist immer ein klares Signal für eine Epoche. Aber die manchmal körperlich spürbaren Vibrationen und die Gerüche, wenn sie sich Bewegung setzen, tun ihr Übriges, die Zuschauer in die Zeit des Stückes zu versetzen.
Alle Fahrzeuge des Theaters stehen übrigens auf Anfrage zum Verkauf. Aber erst nach dem 16. August. So lange spielen sie noch ihre tragenden Rollen in „Türkenschätzchen“.